Täter üben die Opferrolle
Berufliche Schulen hoffen auf durchschlagenden Erfolg des Antiaggressionstrainings
Geisenheim. Täter waren sie alle schon einmal, die Teilnehmer des Antiaggressionskurses, den die Beruflichen Schulen Rheingau in Zusammenarbeit mit dem Verein „VauST" organisierten. Zwei Tage lang übten sie nun auch die Opferrolle.
Ein Blick genügt Olcay. Ohne zu fackeln stürzt sich der Junge im Tagungshaus Nothgottes auf seinen Mitschüler Alexander, schlägt ihm die Faust wieder und wieder in den Bauch. Sekunden dauert es, dann steckt die Brutalität Holger und Patrick an. Sie kämpfen heftig, bis einer die Oberhand gewinnt und der andere am Boden liegt. Unbeteiligt sehen Tyson und Abdel zu, einzugreifen kommt ihnen nicht in den Sinn. Aber dann ändert sich alles. Denn in dem Rollenspiel, das auf der reellen Straftat einiger Schüler basiert, darf jeder mal Täter und muss jeder mal Opfer sein. Während Ersteres für alle 13 Schüler, die den Mut zum Kurs hatten, alltägliche Haltung ist, ist die Opferrolle für die meisten eine völlig neue Erfahrung.
So neu wie die Gefühle für die 15- bis 18-jährigen Ex-Sonderschüler sind, ist da zweitägige Antiaggressivitätstraining in Nothgottes. Monatelang hatte Klassenlehrer Bernhard Hahnel das Thema Gewalt in den Beruflichen Bildungsgängen (ehemals Berufsvorbereitungsjahr) von verschiedenen Seiten beleuchtet. Dabei besprachen die 18 Schüler, die in dem Jahr Einblick in technisch-gewerbliche Berufe gewinnen und den Hauptschulabschluss nachholen können, zum Beispiel gesetzliche und gesellschaftliche Aspekte von Gewalt. Seit Jahren sei die Theorie in den Unterricht integriert, so Hahnel. Erstmals aber folgt ihr ein Praxisteil, den die Europäische Union und der Rheingau-Taunus-Kreis finanzieren.
Das Training organisierte Hahnel mit Sozialpädagogin Monika Wacker-Kemmer, die das EU-Projekt EIBE an der Volkshochschule betreut. Den Kurs selbst führen die Antigewalttrainier Tabea Ruppert, Hajo Köppen und Clemens Mellentin vom Wiesbadener Verein „VauST" durch, der auch Straftäter auf Bewährung trainiert, Gewaltprävention und Mulitplikatorentrainings anbietet.
Nachdem sie Verhaltensregeln samt Sanktionen für die zwei Tage mit den Schülern erarbeitet haben, überlegen alle gemeinsam, was Gewalt überhaupt ist. Mehrere nennen bereits „eine Frau mit Kopftuch" als Aggression. Aber nach intensiven, überraschend offenen Gesprächen, in denen sie sogar eigene Ängste zugeben, und vielen erstmals Wirkungen von Körpersprache bewusst werden, einigen sich die Schüler darauf: „Gewalt fängt da an, wo dein Gegenüber etwas als Gewalt empfindet."
Noch deutlicher wird das den Schülern als sie das Video von dem Rollenspiel analysieren, sich jeder erneut wechselweise als Täter, Opfer und Zuschauer wahrnehmen muss. Von sich aus überlegen die Schüler wie sie so eine Situation deeskalieren können. Selbst Hahnel ist überrascht, wie offen und intensiv die Schüler nachdenken und diskutieren. „Ich glaube, dass ihnen das eine ganze Zeit im Kopf haften bleibt", ist Hahnel zuversichtlich, dass sie ihre Aggressionen in den Griff kriegen. Denn außer tollen Tätergefühlen, die Spaß daran haben wenn „das Blut rauscht" und „die Atmung schneller wird", kennen jetzt alle auch „die Enge", die man als Opfer spürt.
Abdel begeistert die „ausführliche Vorbereitung" des Kurses, Tyson die Palette an Handlungsalternativen, die Ruppert und ihre Kollegen anbieten. Am zweiten Tag meint Tyson, „dass ich den Punkt jetzt erkenne, wo ich nicht weitermachen sollte". Auch Olcay, Holger, Alexander und Patrick geben zu: „Ich wusste nicht, wie man sich als Opfer fühlt." Alle sind sicher, dass dieses neue Wissen Folgen für ihren Alltag hat. „Denn wir haben hier gesehen, was es bedeutet, am Boden zu liegen."